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  Die Geburt und der Untergang des kolonialen bzw. neoliberalen Kapitalismus (1)
 
  Der Jahrtausende lange Weg der Marktwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft
 
 
„Was früher geschehen ist, wird wieder geschehen; was man früher getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne! “
 
      Altes Testament, Prediger                                                
 
 
„Alles Neue ist nur gut vergessenes Altes.“
 
      russisches Sprichwort                                                      

Ich habe die Prinzipien der Marktwirtschaft auf dieser Website und in dem Buch theoretisch aufwendig und vollständig, also akademisch anspruchsvoll dargestellt, in diesem Blog will ich alles radikal vereinfachen und dazu auch noch zuspitzen, also auf wenige prägende Faktoren zurückführen, so dass es verständlich ist auch für diejenigen, die dem Fach Wirtschaftswissenschaft nicht nahe stehen. „Der Teufel steckt aber im Detail“, sagt man dazu, würde man dadurch aber nicht zu oberflächlich? Diese Gefahr ist real, es stimmt aber genauso, dass man durch Details den Weg verlieren kann, so dass man „wegen der Bäume den Wald nicht sieht“. Also, eine Darstellung in groben Zügen ist zumindest nicht überflüssig. Und sie ist ein guter Ausgangspunkt, dann weiter nach Details zu suchen - wenn Interesse daran besteht. Übrigens, die geographischen Karten im Verhältnis 1 : 1 wären nutzlos, deshalb gibt es nur solche, die verkleinert Territorien darstellen. Außerdem werden wissenschaftliche Theorien und Erklärungen nicht nur nach der (empirischen) Wahrheit bewertet, sondern auch nach ihrem Sinn, und gerade das kann eine Vereinfachung und Zuspitzung besonders gut leisten.

Kurz gefasst: Im Folgenden soll das Entstehen des Kapitalismus und seine Funktionsweise erklärt werden, indem alles knapp auf seine Grundprinzipien zurückgeführt wird. Wir beginnen mit der Frage, die sozusagen einem Laien erlaubt wäre: Wer hat den Kapitalismus erfunden? Es ist aber trotzdem keine „kindische“ Frage. Man braucht diese Frage nur wenig anders zu formulieren, und schon ist sie nicht naiv, sondern sogar sehr wesentlich und ernsthaft. Also: Welche Idee oder Ideen, wenn es mehr von ihnen gibt, haben zum Entstehen des Kapitalismus beigetragen und geführt. Anstatt Kapitalismus verwenden wir zuerst das Wort Marktwirtschaft. Es ist schon deshalb erlaubt, da die Marktwirtschaft sozusagen die tragende Säule des Kapitalismus ist. Das ist auch noch etymologisch richtig. Den Namen Kapitalismus hat der Kapitalismus erst bekommen, als er sich schon ziemlich weit entwickelt hatte.

Die jetzt erörterten „Ideen“, Begriffe oder Prinzipien, auf welchen die Marktwirtschaft steht, sind wenig strittig. Zuerst geht es uns darum, ihre Herkunft zu besprechen. Und da wird man sehr überrascht sein.

Marktpreis und internationaler Handel      

Auf den ersten Blick ist es rätselhaft, warum der Kapitalismus über Jahrtausende hinweg nicht entstanden ist. Die Bedingungen, welche nach Ansicht der radikalen Liberalen für die Funktionsweise der Marktwirtschaft als nötig und ausreichend gelten, gab es nämlich in der Geschichte immer wieder. Aus den Schriftquellen der Frühgeschichte sind uns lokale Märkte als uralte Erscheinung gut bekannt. Dazu gehörten nicht nur die Dorfmärkte, wo die anliegenden Bauern ihre kleinen Überschüsse und handwerklich gefertigte Gegenstände ausgetauscht haben, sondern auch andere Einrichtungen und Praktiken, die für die Marktwirtschaft charakteristisch sind. Nach den marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionierende Tauschwege über große Entfernungen gab es sogar schon vor Jahrtausenden. Man denke etwa an die Seidenstraße, die bereits in der Antike als dichtes Netz die alten Zivilisationen sozusagen globalisierte. China war schon damals sogar sehr stark globalisiert. Deshalb haben sich viele verwundert gefragt, warum in China nie so etwas wie Kapitalismus entstand.

Aber auch damit nicht genug. Die Vorteile des freien Tausches dürften schon den primitiven Menschen bekannt gewesen sein und wahrscheinlich wussten sie auch Nutzen daraus zu ziehen. Natürlich können wir nicht wissen, wie der Mensch in den Zeiten, als es noch keine Schrift gab, gelebt hat. Die Anthropologen beschreiben uns aber das Leben der heute noch primitiv lebenden Menschen und das berechtigt uns, daraus zu schließen, dass es irgendwann früher auch so gewesen sein dürfte. So erfahren wir von ihnen auch, wie sogar verfeindete Stämme Güter tauschen. Man hat einen Platz gefunden, wo sozusagen die Grenze zwischen zwei Stämmen verläuft. Ein Stamm legt dort Güter, die er tauschen will, ab und zieht sich zurück. Die andere Seite schaut sich die Güter an und neben denen, an denen man interessiert ist, stellt man eigene Güter hin. Der erste Stamm kommt dann zurück, und wenn man mit dem Handel einverstanden ist, übernimmt er die Güter der Gegenseite, während die eigenen im nächsten Schritt von der Gegenseite genommen werden. Dort wo der „Preis“ - genauer gesagt Tauschwert - nicht stimmt, bessert man nach - oder auch nicht. Geradezu genial effizient und gerecht - zumindest mir scheint es so zu sein.

Geld und Papiergeld   

Dass man exotische Dinge als Geld benutzte, ist hinlänglich bekannt. Während des zivilisierten Teils der Geschichte war Gold-Geld weit verbreitet - also Jahrtausende vor der Neuzeit. Ein fast unglaubliches Beispiel für die Geschichte des Geldes liefert China. Schon im 10. Jahrhundert (Song-Dynastie) taten sich Händler zusammen, um gemeinsam in Kompanien zu investieren und deren Verträge auf dem Papier festzulegen, die man als Vorläufer der westlichen Aktiengesellschaften betrachten kann. Und erstmals in der Weltgeschichte wurde von einer Regierung Papiergeld ausgegeben. Sogar Papiergeld mit verfallendem Wert, also „Schwundgeld“ wurde benutzt, um die Produktion durch Konsumverzicht nicht zu erwürgen.

Lohnarbeit

Die Historiker sind sich einig, dass die ägyptischen Pyramiden nicht Sklaven gebaut haben, diese waren dort nur für die wirklich einfachsten Arbeiten eingesetzt. China hatte nie eine Sklavenordnung, also Sklaven - was die Völker des Abendlandes nicht in das beste Licht rückt. Sogar nach dem Sieg des Christentums, der Religion der Nächstenliebe, hat es im Abendland Jahrhunderte gedauert, bis das Sklaventum tatsächlich aufgehoben wurde. Wie Adam Smith richtig festgestellt hat, sind Sklaven nicht sehr effizient. Sie lassen sich nicht so drastisch ausbeuten wie die Lohnabhängigen.

Arbeitsteilung  

Vielleicht ist nichts aus dem Werk von Adam Smith so bekannt wie die Stelle über die Stecknadelfabrik: Ein ungelernter Arbeiter könne allein vielleicht 20 Nadeln an einem Tag anfertigen. Wenn der Herstellungsprozess jedoch in seine einzelnen Arbeitsschritte aufgeteilt werde und sich der einzelne Arbeiter auf das Ausziehen, Begradigen oder Zuschneiden des Drahtes, das Schleifen der Nadelspitze, das Anfertigen des Stecknadelkopfes, das Bleichen oder das Verpacken der fertigen Nadeln spezialisiere, könnten zehn Personen an einem einzigen Tag 48000 Nadeln fertigen. Nichts ist für Smith so wichtig für die Vermehrung des Wohlstandes, als ein hoher Grad der Arbeitsteilung.

Aber die Arbeitsteilung ist nicht nur seit langer Zeit bekannt, ohne sie wäre Tausch sinnlos. Aber nicht nur das. Sie ist sozusagen auch theoretisch schon seit zwei Jahrtausenden sogar theoretisch ausführlich behandelt. Sie liegt bereits der Ideenlehre von Platon zugrunde, seiner wichtigsten Idee, nämlich der Gerechtigkeit. Platon lässt seine Gedanken durch Sokrates vortragen, der in seinem Dialogen erklärt: „Was haben wir aufgestellt und, wenn du dich recht erinnerst, oft gesagt, dass jeder Einzelne von dem, was zum Staat gehört, ein einziges Geschäft treiben müsse, zu dem seine Natur am geschicktesten angelegt sei. ... Das haben wir allerdings gesagt. Und auch, dass das Seinige tun und nicht vielerlei zu treiben, Gerechtigkeit ist.“

Erfindungsgeist und Technisches Wissen

Man könnte annehmen, dass der westlichen Gesellschaft es durch ihren einmaligen Erfindungsgeist möglich geworden ist, Schiffe zu bauen, mit denen man dann neue Kontinente entdeckte. Der Westen war aber damals, verglichen mit den Chinesen, sehr rückständig. Es war eine Entscheidung des chinesischen Kaisers, alle Schiffe zu vernichten und China vom Rest der Welt zu trennen - was sich als keine gute Endscheidung erwiesen hat. Die Erkenntnis, dass sich Splitter von Magneteisenstein in die Nord-Süd-Richtung drehen, war in China schon seit der Zeit der Streitenden Reiche, zwischen 475 v. Chr. und 221 v. Chr., bekannt. Die Chinesen benutzten seit dem 11. Jahrhundert eine schwimmende, nasse Kompassnadel, die „Südweiser“ genannt wurde, da sie die Südrichtung als Hauptrichtung markierte. Auch Schießpulver für die Schiffskanonen war eine chinesische Entdeckung. Die Chinesen haben es nur als Feuerwerk für Feiertage benutzt, erst im christlichen Abendland ist man auf den Gedanken gekommen, wie man mit ihm die neu entdeckten Kontinente von den Eingeborenen „befreit“. Da vor dem Aufstieg Europas auf China etwa sechzig Prozent der Weltproduktion entfallen ist, ist kaum anzunehmen, dass es den Chinesen an Erfindungsgeist fehlen sollte.

Man könnte auf den Gedanken kommen, die Epoche des Rationalismus und der Aufklärung habe zum Entstehen der modernen Wissenschaften geführt, die dann als technischer Faktor zur Entwicklung der Marktwirtschaft führte. Das würde aber nicht den Tatsachen entsprechen. Die Erste industrielle Revolution war keine Folge der Naturwissenschaften, die standen damals nur an ihrem Anfang, sondern vielmehr des technischen Wissens aus den vormodernen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden. Dieses Wissen ging nicht weiter, als nur die menschliche und tierische Arbeit durch sehr einfache Maschinen oder besser gesagt Werkzeuge zu ersetzen. Lassen wir da die Historiker zu Wort zu kommen, die das gut erforscht haben. „Man muß nur einmal mit den Augen eines Industriearchäologen durch England wandern, um zu bemerken, daß bis lange nach 1800 neue Anlagen fast in jeder Industrie üblicherweise Wasser statt Dampf zum Betrieb ihrer Maschinen verwendeten. Der erste Abschnitt der Industriellen Revolution verließ sich weitgehend auf mittelalterliche Energiequellen“ (Cipolla: Bd. 3. 121). Das betrifft noch mehr die anderen damaligen Innovationen, die allesamt fast ausschließlich der Baumwollindustrie dienten. Es lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die „Anfänge der Industriellen Revolution – annähernd bis 1800 – hauptsächlich im Gebrauch mittelalterlicher Verfahren bestanden, die man bis an ihre Grenzen trieb“ (ebd.: 121). Es waren dementsprechend sehr einfache Innovationen „die keine besondere Eignung oder Ausbildung voraussetzten. Jeder intelligente Mensch konnte sie machen, der genügend Begeisterung und genügend Vorstellungsvermögen für kommerzielle Chancen hatte. Ein bloßes genügend starkes ,Wollen‘ war eigentlich alles, was dazu nötig war“ (ebd.: 124). Neu an der (ersten) Industriellen Revolution war die Größenordnung der Veränderung, nicht deren qualitativer Gehalt oder radikaler Bruch mit der Vergangenheit. „Das Zeitalter, dem die großen Gelehrten Kopernikus, Galilei und Newton angehörten, wurde in technischer Hinsicht nicht durch die Leistungen der Gelehrten geprägt, sondern war das Werk von Praktikern“ (ebd.: Bd. 2. 165). Die populären Erklärungen, die mit der Dampfmaschine, liegen da auch schief. Als Smith im Jahre 1776, - nach elf Jahren Arbeit - sein epochales Buch Der Wohlstand der Nationen veröffentlichte, war James Watt gerade so weit, den Prototyp der ersten industriell anwendbaren Dampfmaschine der Öffentlichkeit vorzustellen. Das Walzverfahren in der Eisenindustrie (1780), der mechanische Webstuhl (1785) und vieles mehr sind erst danach erfunden worden. Die erste systematisch ausgearbeitete Theorie der Marktordnung war also fertig, noch bevor die in die Praxis umgesetzte Marktwirtschaft die Erste industrielle Revolution als ihren ersten historischen Erfolg vorzeigen konnte.

Privateigentum  

Das Eigentum, seitdem man überhaupt über Eigentum sprechen kann - im Leben der primitiven Menschen kann man es nicht - war schon immer auf eine oder andere Weise privat. Der sozusagen theoretische Angriff auf das Privateigentum kam von Platon. Er sieht in ihm eine Ursache vieler Probleme und will es für Staatslenker - für Philosophenkönige - verbieten. Sein berühmtester Schüler Aristoteles sieht dagegen darin keine Lösung irgendwelcher Probleme. Er ist entschieden dagegen. Was sehr überrascht, ist, dass Aristoteles das Eigentum sozusagen aus ökonomischen Gründen haben will: „Was den meisten gemeinsam ist, erfährt am wenigsten Fürsorge. Denn um das Eigene kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame weniger oder nur soweit es den einzelnen angeht. Denn, abgesehen von allem übrigen, vernachlässigt man es eher, weil sich doch ein anderer darum kümmern wird.“ Das hat erst Smith richtig begriffen - dazu später mehr.

Das wären also die wichtigsten Ideen, Begriffe oder Prinzipien der Marktwirtschaft, aus der sich der real existierende Kapitalismus entwickelte. Und sie waren schon lange davor bekannt. Wenn sich aber der Kapitalismus theoretisch betrachtet schon vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden hätte entwickeln können, dies jedoch nicht geschehen ist, müsste da nicht doch etwas fehlen? Der Frage wollen wir nun nachgehen.

Fortsetzung folgt

 
 
 
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